Hintergrund:
Erstellung einer Gewerbeflächenbedarfsanalyse im Zusammenhang mit den vorbereitenden Untersuchungen für eine mögliche Entwicklungsmaßname in Darmstadt/Nord. Der Magistrats Beschluss vom 01.09.2021 war „der Magistrat nimmt die Vorlage zur Kenntnis“. Die Kritik und Analyse von Seiten der AKW Projektgruppe wurde an das Büro des Planungsbegleitforums weitergeleitet. Eine Stellungnahme der Stadt blieb bisher aus.

Der Link zur Seite der Stadt Darmstadt mit dem Thema Vorbereitende Untersuchung des Gewerbegebiets Wixhausen Ost incl. der Gewerbeflächenbedarfsanalyse:

www.darmstadt.de/wixhausen-ost

 

Die Stadt Darmstadt hat einen „Masterplan“ beschlossen, nach dem riesige landwirtschaftliche Flächen im Westen Arheilgens und im Osten Wixhausen in Gewerbegebiete umgewandelt werden sollen. Insgesamt hat sie dafür 230 Hektar vorgesehen:

Ein Vergleich der Untersuchungsgebiete (petrol umrandet) mit den Masterplan-Gewerbeflächen (pink) zeigt nicht nur, dass die Masterplankarte unsauber gezeichnet ist. Die Flächenüberlagerung offenbart auch, dass die die aktuell zur Gewerbeansiedlung untersuchten Gebiete noch größer ausfallen als die im Masterplan dafür ausgewiese-nen Flächen. Selbst wenn die Untersuchungsgebiete nicht voll ausgeschöpft werden sollten, bleibt die üppige „klare Siedlungskante“ im Masterplan (fette blasslila Linie) als flächenfressende Rückfallebene. Aber das von der Stadt eingeholte Gutachten steuert darauf zu, auch die größeren petrol umrandeten Untersuchungsgebiete voll auszuschöpfen.

 

Ein von der Stadt bestelltes Gutachten sollte eine Rechtfertigung für diese Gewerbe-Expansionspläne liefern – und erfüllt diesen Auftrag vollends: Darin wird für die nächsten 19 Jahren ein angeblicher „Bedarf“ an Gewerbeflächen auf bislang unbebautem Gelände von 190 ha behauptet. Rechnet man die nötigen, aber im Gutachten übergangenen naturschutzrechtlichen Ausgleichsflächen für die damit einhergehende Versiegelung hinzu, so würden die 230 Masterplan-Hektar nicht einmal ausreichen.

Wie begründen die „Gutachter“ ihren „Bedarf“?
Bedarf ist allgemein der als Mangel erlebte Wunsch eines Wirtschaftssubjekts nach dem Erwerb von Gütern und Dienstleistungen, deren Besitz, Gebrauch, Nutzung oder Verbrauch die Befriedigung von Bedürfnissen erwarten lässt, sagt uns Wikipedia. Deshalb fragen wir konkreter: Welche „Wirtschaftssubjekte“ haben diesen „Bedarf“ an Flächen angemeldet und welche Bedürfnisse soll das befriedigen?

Es hätte nahe gelegen, die Darmstädter Gewerbebetriebe als „Wirtschaftssubjekte“ danach zu fragen, welche Flächen Sie in Zukunft benötigen, aber auch: welche Flächen sie bereits bevorratet haben, jedoch brach liegen lassen und welche Flächen sie in Zukunft aufgeben werden. Nichts von all dem haben die Gutachter getan. Sie haben lediglich die protokollierten Verträge über Gewerbegrundstücksverkäufe der letzten 10 Jahre dahingehend ausgewertet, welche Flächen für Gewerbe erworben wurden. Und diese Auswertung haben sie einseitig auf unbebaute Grundstücke begrenzt, also Flächenrecycling und Flächenaufgabe schlicht ausgeblendet. Das hat zu dem Ergebnis geführt, dass in den letzten 10 Jahren 43,5 ha unbebaute Flächen zur Gewerbeansiedlung den Eigentümer gewechselt hätten.

Diesen Flächenverbrauch – der bemerkenswerterweise innerhalb der bebauten Stadt stattgefunden hat – verlän-gern sie dann einfach in die Zukunft und kommen so zum Ergebnis, dass in den nächsten 19 Jahren weitere 83 ha unbebaute Flächen zur Gewerbeansiedlung benötigt würden.

Da aber mit diesen 83 ha die vom Masterplan geforderten 230 ha bei weitem nicht erreicht werden, wenden die „Gutachter“ einen Trick an: Sie behaupten, die Beschäftigtenzahlen hätten sich in den letzten zehn Jahren in Darmstadt „exponentiell“ entwickelt. Einen Nachweis legen sie dafür nicht vor (vgl. hingegen die reale Entwicklung in der Abbildung rechts), verlängern aber auch die angeblich „exponentielle“ Entwicklung in die Zukunft und kommen so zu dem Rechenergebnis, dass in den nächsten 19 Jahren 22.200 zusätzliche Arbeitsplätze in Darmstadt entstehen würden – davon allein 14.000 im verarbeitenden, produzierenden Gewerbe. Das ist einigermaßen abwegig, weil das weit mehr als die Duplizierung der gesamten Firma Merck (mit Abstand größter industrieller Arbeitgeber in Darmstadt) bedeuten würde.

Ihren fiktiven Beschäftigtenzuwachs übertragen die Gutachter dann auf den ‚nur‘ linear extrapolierten Flächenbedarf, drücken also auch diesem eine exponentielle Dynamik auf und kommen nur so auf die eingangs genannte Zahl, dass statt 83 ha aus der linearen Extrapolation der Flächenverkäufe 190 ha Gewerbeflächen ‚benötigt‘ würden.

Zweifellos gab es in Darmstadt einen Beschäftigtenzuwachs, der aber im Trend linear und keineswegs „exponentiell“ verlief. Auf den Gedanken, dass sich dieser Beschäftigtenzuwachs bereits in den 43,5 ha neuer Gewerbeflächen niedergeschlagen hat und daher nicht als ergänzender Verstärkungsfaktor zum zweiten Mal ins Spiel gebracht werden kann, kommen die „Gutachter“ nicht. Nur vage wird angedeutet, dass sich die Firma Döhler stark vergrößert hat und Alnatura neu angesiedelt wurde. Die Neuansiedlung des Batterieproduzenten Akasol wird gar nicht erwähnt. Dabei können nur solch konkrete Vorgänge Hinweise auf die realen Entwicklungen liefern.

Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in Darmstadt im Betrachtungszeitraum der Gewerbeflächenstudie nach Daten der Bundesanstalt für Arbeit. „Exponentiell“ entwickelt sich hier nichts. Aber auch die lineare Entwicklung ist für Darmstadt und seinen Verkehr belastend genug.

 

Die Firma Döhler hatte seit langem ihren Wunsch angemeldet, sich im Weststadt-Quartier vergrößern zu wollen. Nach Aufgabe der US-Militärflächen hat sie darin groß eingekauft und ihre Firmenfläche verdreifacht. Dazu hat wesentlich beigetragen, dass die gesamte Logistik, die bislang in großen Hallen bei Gernsheim untergebracht war, nach Darmstadt verlagert wurde.

Auch Alnatura und Akasol haben ihre Betriebe aus dem Umland nach Darmstadt in die Konversionsflächen der Weststadt verlagert bzw. sich dort neu gegründet. Das folgte aber keinem „Bedarf“, sondern dem Handeln des „Wirtschaftssubjekts“ Stadt Darmstadt, die seit Übernahme durch die Grünen einen strikten Wachstumskurs mit offensiver Firmenansiedlung betreibt, der jeglichem Nachhaltigkeitsgedanken spottet.

Das Gutachten unterscheidet für die letzten zehn Jahre in seiner Analyse der Kaufverträge 41 Verkäufe von kleineren Flächen (im Durchschnitt je Verkauf nur 0,6 ha) von sehr wenigen, nämlich nur 6 Verkaufsfällen von „Rohbauland“, die mehr als einen Hektar betrafen und sich insgesamt auf 19 ha summierten. Allein die Döhler-Erweiterung ist daran mit ca. 8 ha beteiligt und macht damit bereits mehr als 40 % der Ankäufe von gewerblichem „Rohbauland“ im Betrachtungszeitraum aus. In Darmstadt ist kein weiteres Unternehmen bekannt, das derartige Expansionspläne hegt. Die Döhler-Erweiterungsfläche taugt daher als singuläres Ereignis nicht als Ausgangsgröße für eine Trendverlängerung.

Die Döhler-Erweiterung taugt aber sehr wohl als abschreckendes Beispiel für das, was auf den Äckern Wixhausens und Arheilgens droht, wenn dort (laut Gutachten) allein 14.000 Industriearbeitsplätze entstehen sollen (vgl. Luftbilder rechts). Oberbürgermeister Partsch hatte Befürchtungen ob der gewerblichen Versiegelung um Arheilgen und Wixhausen so zu beschwichtigen versucht: „So manche biodivers geplante Gewerbefläche sei am Ende vielleicht ein größerer Rückzugsort für Pflanzen und Tiere als die Monokulturen auf landwirtschaftlichen Flächen“ (DE vom 26.05.2021). Die Döhler-Erweiterung, die voll in die Verantwortung des Grünen Oberbürgermeisters und Wirtschaftsförderungsdezernenten fällt, offenbart hingegen die Realität einer vollflächigen Versiegelung mit betonierten Abstellflächen, Lagerhallen und Produktionsgebäuden, die weder mit Fotovoltaik noch mit Dach- oder gar Fassadenbegründung dekoriert sind. Mit all dem hier verbauten Beton, dessen Zementkomponente für 7 % der Treibhausgasemissionen verantwortlich ist und mit den sich aufheizenden vollversiegelten Flächen liefert die Döhler-Erweiterung ein Maximum an Klimaschädlichkeit.

Blick mit Google Earth auf die Firma „Döhler Natural Food & Beverage Ingredients“ in Darmstadt: oben vor Erweiterung in die Flächen des ehemaligen „Nathan-Hale Depots“ und unten danach (jeweils gleicher Bildausschnitt).

 

Ein wichtiges „Wirtschaftssubjekt“ sind die Bewohner Darmstadts. Haben sie einen „Bedarf“ an Gewerbeflächen bzw. konkreter: einen Bedarf an den darauf entstehenden Arbeitsplätzen? Eine Sonderauswertung des städtischen Statistikamtes (Statistische Berichte 02/2019) analysierte: Etwa 32.000 Personen, die in Darmstadt sozialversicherungspflichtig arbeiten, leben auch dort. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass über 70.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, die in Darmstadt arbeiten, zur Arbeit einpendeln. Das entspricht einer Einpendlerquote von 68,9 %. Diese ist im letzten Jahrzehnt weitgehend stabil geblieben.

Die Bewohner Darmstadts haben also keinen „Bedarf“ an zusätzlichen Arbeitsplätzen, wenn bereits der größte Teil der vorhandenen Arbeitsplätze nur aus dem Umland besetzt werden kann. Bei der trotz massivem Wohnungszubau in den letzten Jahren stabil gebliebenen Pendlerquote würden 22.200 zusätzliche Beschäftigte in den neuen Gewerbegebieten über 15.000 zusätzliche Berufspendler bedeuten. Was das für die bereits überlasteten Straßen Darmstadts bedeutet, kann sich jeder Anwohner an diesen Straßen ausmalen.

Die Bewohner Darmstadts haben hingegen einen elementaren Bedarf an Lebensmitteln, die möglichst im nahen Umfeld erzeugt werden sollten. Auch deren Produktion ist „Gewerbe“, das fraglos große Flächen benötigt: Acker- und Grünland. Insofern herrscht aber ein extremer Flächenmangel:

Für den ORF-/3sat-Film „Die Ernährungsfalle“ wurde in der Nähe von Wien ein sogenanntes „Durchschnittsfeld“ angelegt, das den durchschnittlichen Flächenbedarf zur Ernährung eines Bewohners von Deutschland oder Österreich aufzeigen soll. Danach benötigt Jeder ein 4.370 m² großes Feld (rund 0,44 ha) für seine Ernährung. 2/3 unserer Lebensmittel beziehen wir von Flächen aus dem Ausland, von denen der größte Teil für die Produktion von Sojakraftfutter für die europäische Fleischerzeugung okkupiert ist. Diese Flächen entstehen zunehmend im brand-gerodeten Regenwald.

Nun ist nicht jegliche Viehwirtschaft schädlich. Denn beweidetes Grünland ist einer der wichtigsten Kohlenstoffspeicher, die wir haben. Der Viehbesatz muss aber auf die Grünlandflächen abgestimmt sein (das sah die vor Jahren zugunsten der Massentierhaltung abgeschaffte „Flächenbindung“ vor). Eine insofern „passende“ Viehwirtschaft haben wir in Darmstadt auf den Biohöfen „Oberfeld“ und „Eichwaldhof“. Im Darmstädter Norden hingegen wird vor allem Gemüse angebaut. Insofern reichen bereits durchschnittlich 58 m² pro Person aus, um uns zu ernähren.

Ganz können wir auf Flächen im Ausland nicht verzichten, solange wir nicht auf Oliven, Reis, Sesam, Kakao, Kaffee oder Gewürze verzichten wollen. Wenn wir aber durch mäßigen Verbrauch von Fleisch und Milchprodukten auf den größten Flächenteil der „Auslandsproduktion Milch- und Viehwirtschaft“ verzichten würden, dann verblieben noch immer rund 2.400 m² oder 0,24 ha Bedarf an landwirtschaftlichen Flächen pro Person.

Das „Durchschnittsfeld“ mit allen landwirtschaftlichen Produkten, die ein zentraleuropäischer Mensch pro Jahr verbraucht: ca. 2/3 kommen aus dem Ausland (linker Bereich) und ebenfalls ungefähr 2/3 werden nicht direkt konsumiert, sondern dienen als Futter in der Milch- und Viehwirtschaft (unterer Bereich).

 

Die Landesstatistik Hessens weist für Darmstadt landwirtschaftliche Flächen von 2.335 ha aus. Bei aktuell 161.409 Einwohnern in Darmstadt (Stand 30.06.2021) können die landwirtschaftlichen Flächen im Gemarkungsgebiet Darmstadt rechnerisch nur knapp 10.000 Darmstädter ernähren. Oder anders herum: Jeder Darmstädter kann im Durchschnitt nur knapp 17 % seiner Ernährung von diesen Flächen im Nahbereich beziehen. Alles andere muss herangeschafft werden.

Daraus lässt sich nur schließen, dass die kostbarste „gewerbliche“ Nutzung, die sich für die Flächen westlich von Arheilgen und östlich von Wixhausen denken lässt, die landwirtschaftliche Nutzung ist.

AKW-Projektgruppe, im November 2021